Die Rauhbeinigen door Kerstin HOLM, Moskou op FAZ-net, 10 mei 2006.
Rußland, das sich in ruhigen Entwicklungsphasen eher provinziell ausnimmt, wird in Phasen revolutionärer Umbrüche zuverlässig zur weltgeschichtlichen Hauptbühne. Globale Prozesse wie die Konzentration von Wirtschaftskraft, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, die demographische Krise und gleichzeitig das ökonomische Überflüssigwerden großer Bevölkerungsteile finden hier praktisch ohne zivilgesellschaftliche Abfederung statt.
Fernsehnachrichten und Radiosendungen nähren den patriotischen Stolz des von Produktwerbung und Unterhaltungsshows überfütterten Publikums, indem sie imponierende Wachstumszahlen und Aktienkurse insbesondere der russischen Rohstoffwirtschaft präsentieren wie Siegesmeldungen. Als ob auch die Verlierer im nationalökonomischen Konkurrenzkampf angesichts des Erfolgs der großen Rußland-AG Trost finden sollen.
Faschismus mit russischem Gesicht
Zornige junge Männer vom unteren Rand der rauhen russischen Gesellschaft tun sich unterdessen immer öfter durch Überfälle auf Jugendliche von nicht nordischem Aussehen hervor. Bürgerrechtler warnen seit Jahren vor einem Faschismus mit russischem Gesicht. In jüngster Zeit zeigen sich endlich auch Talkshowmaster und Politiker über die nationalistischen Feindseligkeiten besorgt. Die Frequenz fremdenfeindlicher Gewalttaten steigt kontinuierlich. Allein in diesem Jahr haben mehr als ein dutzendmal organisierte russische Schläger Mitbürger aus dem Kaukasus, Zentralasien und Studenten aus Afrika oder Südostasien angegriffen. In Moskau erdolchten erst vor zwei Wochen Skinheads einen armenischen Jungen am helllichten Tag in einer Metrostation.
In öffentlichen Debatten kehrt leitmotivisch das Argument wieder, Rußland könne gar nicht faschistisch werden, weil es im Zweiten Weltkrieg den Faschismus bekämpft und Europa von dieser Geißel befreit habe. Doch während das Land soeben den einundsechzigsten Jahrestag des Weltkriegssieges mit beschwörendem Pomp begangen hat, hängt über dem Horizont schwerer denn je die Gewitterwolke rassistischen Hasses.
Verbrecher Nummer eins
Ausgerechnet in dem Land, das Hitler-Deutschland besiegt hat, weiß man über das Nazi-Regime am schlechtesten Bescheid, stellte schon der Historiker Daniil Melnikow fest, der die erste russische Biographie des deutschen Diktators verfaßte. Sein Buch mit dem Titel „Verbrecher Nummer eins“ konnte erst zur Perestrojka-Zeit erscheinen. Denn wie darin Hitlers verschlagene, rücksichtslose Tyrannenkarriere geschildert wird, seine Ausmerzung Andersdenkender und seine allenthalben lauernde Geheime Staatspolizei, das erinnerte allzusehr an das sowjetische System. Tatsächlich stellt sich sowohl für die Frontveteranen wie für die heutige Feiertagsmythologie der Sieg über den Faschismus vor allem als erfolgreiche Bekämpfung des äußeren Feindes dar. Die „innere“ Faschismusbekämpfung als Engagement gegen Fremdenhaß, Unterdrückung und Rechtszynismus blieb ausgespart.
Die bekannteste Neonazi-Organisation ist die „Russische Nationale Einheit“ von Alexander Bakaschow. Ihre Anhänger dekorieren sich mit kaum abgewandelten Nazi-Insignien und erklären „Mein Kampf“ zu ihrem Kultbuch. Wer als Deutscher in Rußland lebt, den irritiert die geradezu liebevolle Bewunderung, die auch viele neonazistischer Sympathien völlig unverdächtige Zeitgenossen für Uniformen, Abzeichen und Militärtechnik der Nationalsozialisten an den Tag legen. Denn von diesem Gegner hatte die zu Kriegsbeginn desolate Rote Armee gelernt. Auch in der künstlerischen Darstellung, ob auf Gemälden eines Alexander Dejneka oder im sowjetischen Spionagefilmklassiker „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“, erscheinen die deutschen Feinde nicht plump und lächerlich wie meist in angelsächsischer Optik, sondern eher als faszinierende Dämonen oder rassige gefallene Engel. Die sowjetrussischen Helden der starren wie bewegten Bilder wirken einfacher gestrickt, oft bäuerlich-familiär - jedermann konnte sich mit ihnen identifizieren.
Ein wehrloses Aggressionsobjekt
Nun suchen Angehörige einer verlorenen Generation ihr Heil in der Pose des früheren Kriegsgegners. Das heißt auch, daß sie die „gute“ mit der „bösen“ Rolle vertauschen und der übrigen Menschheit nichts mehr anzubieten haben - im Gegensatz zur Sowjetideologie ihrer Großväter, die ungeachtet aller sowjetischen Greueltaten von einer universalen Mission beflügelt war. Der Philosoph Grigori Pomeranz vergleicht die Übergriffe russischer Jugendlicher auf fremdländisch aussehende Altersgenossen mit der sinnlosen Beschädigung von Parkbänken: In einer Welt, in der jeder mit jedem konkurriert und keine Werte mehr verbindliche Gültigkeit haben, suche sich die frustrierte Energie ein bequem identifizierbares und möglichst wehrloses Aggressionsobjekt.
Tatsächlich erzürnen sich auch Russen mit Ressentiments gegen Juden und Kaukasier über die rassistischen Banden. Denn die Skinheads greifen, vorzugsweise zu mehreren, Tadschiken oder Senegalesen an, die niemanden beleidigt haben. Um die gut organisierten Aserbaidschaner aber, welche die russischen Gemüsemärkte im eisernen Kontrollgriff halten, machen die Schläger einen großen Bogen.
Erstaunlich milde Strafen
Auf einem Diskussionsforum der Zeitung „Kultura“ brachten Schriftsteller den militanten russischen Nationalismus mit der Verkrustung der gesellschaftlichen Pyramide in Zusammenhang. Allzu viele Bürger fänden keine Möglichkeit zu halbwegs befriedigender Betätigung. Die faschistoiden Umtriebe erscheinen so auch als Kehrseite der vielgelobten Systemstabilisierung. Und wenn russische Richter wie jüngst in Petersburg rassistische Totschläger mit erstaunlich milden Strafen belegen, so läßt das darauf schließen, daß die politische Führung Aggressionen gegen Ausländer in gewissem Rahmen als Unmutsventil zu dulden bereit ist.
Immer mehr Russen bevorzugen eine homogene Nation, das bezeugen Umfragen. Dieser Geist bedrohe die staatliche Einheit, warnt der eurasische Ideologe Alexander Dugin, in dessen Augen Rußland nur dann als Imperium bestehen könne, wenn im Inneren Völkerfreundschaft herrscht. Rußland sei immer ein Vielvölkergebilde gewesen, hält Dugin seinen Landsleuten vor, der russische Geist habe sich stets durch Offenheit und Universalität ausgezeichnet. Dabei bewohnten die Russen einen Staat, der beherrscht sei von ihrer eigenen Sprache und Kultur. Doch die schrumpfende Titularnation fühlt sich von der Aufgabe, den größten Staat der Welt zusammenzuhalten, zusehends überfordert. In Umkehrung des nationalsozialistischen Schlagworts sieht sich Rußland zu einem Raum ohne Volk werden - jedenfalls ohne russisches.
F.A.Z., 11.05.2006, Nr. 109 / Seite 42
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