zondag, september 17, 2006

Nach dem Untergang des Abendlandes door Felix Philipp INGOLD in FAZ, 23 augustus 2006.

Die russischen Neoeurasier haben eine geopolitische Vision

Unter der kaum aussprechbaren, aber dennoch populär gewordenen Bezeichnung „Neoeurasianismus" (neojewrazianstwo) hat sich in Rußland seit den mittleren neunziger Jahren ein neues politisches Denken durchgesetzt, das heute in vielen Parteiprogrammen und selbst in Regierungserklärungen zumindest als Spurenelement nachzuweisen ist. Sprecher und Organisator der neoeurasischen Bewegung ist der rastlos agierende Philosoph Alexander Dugin, von dem mehrere staatstheoretische und allgemein politikwissenschaftliche Werke vorliegen, der seine öffentliche Präsenz jedoch durch Fernsehauftritte, streitbare Interviews, publizistische Tageskommentare oder Grundsatzreden in der Duma markiert: Charakteristisch für den Neoeurasianismus insgesamt und für Dugin ist die Tatsache, daß die neue Lehre parteiübergreifend das ganze politische Spektrum von der extremen Rechten bis zur extremen Linken zu erfassen vermag, ausgenommen die liberale Mitte, deren Einstehen für Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechte in neoeurasischer Optik als geradezu kriminelle Verirrung sich darstellt.

Die absolute Heimat

Zum Neoeurasianismus bekennen sich heute nicht nur einflußreiche Politiker, sondern auch viele angesehene Kulturschaffende, darunter der Kinoregisseur Nikita Michalkow und der kasachische Dichter Olshas Sulejmenow. Neoslawophile, Neofaschisten und Neostalinisten scheinen im politischen Horizont des Neoeurasianismus eine gemeinsame ideologische Heimat gefunden zu haben, dazu allerdings auch gemeinsame ideologische Feinde, zu denen neben den „Liberalen" auch so unterschiedliche Interessenträger wie die „Oligarchen", die „Freimaurer", die „Menschenrechtler", die „Westler", die „Kapitalisten" und, allen voran, die „Juden" gehören.

Als Hauptwerk des neoeurasischen Denkens gilt Dugins tausendseitige Monographie über die „Grundlagen der Geopolitik", die seit 1996 in immer wieder neu konzipierten Editionen erscheint, ein autoritatives „Lehrbuch für alle Entscheidungsträger in den wichtigsten Sphären des rußländischen politischen Lebens", zugleich eine Rückschau auf frühere geopolitische Theoriebildungen und der Versuch, diese nun erstmals in eine „geopolitische Doktrin Rußlands" einzubringen. Diese Doktrin weist Rußland auf der Weltkarte die Schlüssellage zu, so daß auf deren Mittelachse Sibirien und der indische Subkontinent auf gleicher Breite zu liegen kommen und nicht, wie üblich, das westliche Europa zwischen Nordschweden und Süditalien.

Dugins Lehre, die durch weitere Buchtitel wie „Die absolute Heimat", „Wege des Absoluten", „Mysterien Eurasiens" oder „Die russische Sache" repräsentiert ist, läuft nicht bloß auf die Kollision unvereinbarer Kulturen hinaus, sondern auf einen „unabwendbaren Großen Krieg der Kontinente, ein unaufhörliches Duell der Zivilisationen und deren tektonischen Zusammenprall" - West und Ost, Meer und Land, Atlantismus und Eurasiertum. Hier stehen sich Leviathan und Behemot in apokalyptischem Widerstreit gegenüber, und Rußland wird es letztlich beschieden sein, aus diesem Widerstreit als neue Weltmacht hervorzugehen: „Die Basis ist gelegt, die Grundprinzipien sind geklärt. Doch das ist erst der Anfang eines Weges, der uns nach der Logik der Dinge aus dem Abgrund zum Licht neuer russischer Himmelssphären und zum heiligen Fleisch der russischen Erde emporführen wird."

Die bisweilen esoterisch anmutende Rhetorik, deren sich Dugin in seinen Programmschriften befleißigt, sollte nicht über den erbarmungslosen Rigorismus seines Denkens hinwegtäuschen. Es läßt alles hinter sich, was der Bolschewismus an Weltbeglückung imaginiert und als Weltrevolution gefordert hat. Die Geopolitik der Neoeurasier ist zugleich ein militanter Patriotismus, der die Heimat absolut setzt und ihr globale Dimensionen verleiht. Als seine Vorbilder und Gewährsleute zitiert Dugin — mit großem Respekt — vorwiegend westeuropäische Autoren, allen voran Karl Haushofer und Carl Schmitt, aber auch die exilrussischen „Eurasier" der zwanziger Jahre und deren letzten Nachfahren, den sowjetischen „Ethnogenetiker" Lew Gumiljow, der heute als Vordenker der neuen russischen Rechten hohen postumen Ruhm genießt.

Schon das frühe Eurasiertum war ausgeprägt staatsgläubig und machtorientiert, imperialistisch, nationalistisch und dezidiert antiwestlich eingestellt, mit merklichen bolschewistischen beziehungsweise stalinistischen Sympathien, dominiert von herausragenden Intellektuellen wie dem Linguisten Nikolaj Trubezkoj, dem Geographen Pjotr Sawizkij, dem Historiker Georgij Wernadskij und dem Musikologen Ejotr Suwtschinskij, die im wesentlichen die theoretischen Grundlagen der eurasischen Ideologie ausgearbeitet haben, an die der Neoeurasianismus nun anknüpft, wobei er sie um eine reichlich diffuse religiöse Dimension ergänzt.

Erst unlängst hat Igor Wischnewezkij in einer aufsehenerregenden Studie nachweisen und dokumentieren können, welch außerordentlichen, vor allem propagandistischen Anteil die Musikkultur der russischen Moderne an der Verbreitung der eurasischen Idee seit 1920 bis in die Jahre des stalinistischen Staatsterrors gehabt hat. Sergej Prokofjew, zurückgekehrt in die Sowjetunion und zum Volkskünstler avanciert, schrieb aus Anlaß des zwanzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution eine große eurasianisch inspirierte Kantate und wenig später auch ein konzertantes Trinklied auf den Diktator.

Im Sinn und Geist des Eurasiertums haben sich auch die Komponisten Artur Lurje, Igor Strawinskij und Igor Markewitsch engagiert, sei es mit programmusikalischen Werken, die östlichen Primitivismus gegen westlichen Formalismus ins Spiel brachten, sei es (wie Lurje oder Suwtschinskij) mit eigenständigen theoretischen Schriften und politischen Deklarationen. Auf singuläre Weise gingen hier das Komponieren, die Abfassung musikästhetischer Programmschriften sowie philosophische Reflexionen „im Geist der Musik" eine produktive Verbindung ein, freilich allzuoft in unkritischer Annäherung an die stalinistische Sowjetunion.

Eine neue Kulturepoche

Strawinski, der von solcher Sympathie unberührt blieb, gab schon 1914 gegenüber Romain Rolland seine Verachtung für die Dekadenz der westlichen Musikkultur zu erkennen und sah für Rußland „die Rolle eines herrlichen barbarischen Landes", das erfüllt sei von „Keimlingen neuer Ideen" und „potent genug, den Weltgedanken zu befruchten". Reife oder gar Vollkommenheit, wie Sträwinski sie in der europäischen Musik erreicht sah, hielt er für den „Anfang des Untergangs", für die „niedrigste Stufe der Lebensfähigkeit". Damit knüpfte er allerdings bloß an Leo Tolstois Generalabrechnung mit der tradierten „hohen Kunst" an - zugunsten einer neuzuschaffenden „Volkskunst".

Die Pioniere des Eurasiertums gingen von einem „organischen" Kultur- und Kunstverständnis aus, das an Begriffen wie „Kraft" und „Reife", „Blüte" oder „Zerfall" orientiert ist und das an Oswald Spenglers kulturtypologische Klassifizierungen in dessen „Untergang des Abendlandes" (1918 bis 1922) erinnert. Dieser „Untergang" wird nun von den Neoeurasiern wortreich herbeigeredet in der Überzeugung, daß danach eine qualitativ neue Kulturepoche folgt, welche weder europäisch noch asiatisch, sondern eben eurasisch sein wird — angeführt vom rußländischen Vielvölkerstaat, einer „vollkommen eigenständigen ethnischen Gemeinschaft“, die allein in der Lage sei, den West-Ost-Konflikt geopolitisch zu bereinigen.


Bron: Felix Philipp Ingold in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, vom 23.08.2006